Mittwoch, 29. Juni 2011

Morgenrot, Kapitel 1 - (Martin)

Ein Schwall aus Schweiß und Rauch bricht dem Mann wie eine Flutwelle beim Öffnen der Türe entgegen. Ungerührt tritt er ein und schließt. Sofort herrscht Hektik in der Luft, ein Wirrwarr aus Stimmen, Zigarettenrauch und Alkoholdünsten wirbelt durch das große, doch wenig geräumige Zimmer. Wieder verharrt der Mann, als müsse er die Szene in sich aufsaugen, einer Kamera gleich, jeden Bildpunkt speichernd. Sein verhüllter Blick streift durch den Raum, schlängelt sich durch Tische und Stühle, um die Hüften der Bedienungen entlang, um schließlich an einem ungemütlich wirkenden Barhocker hängen zu bleiben. Fuß vor Fuß durchquert er den Raum, unbehelligt, unbemerkt. Er legt seinen schwarzen Hut achtlos auf den schmutzigen Tresen, rückt kurz seinen Anzug zurecht und setzt sich. Seine blitzenden Augen erfassen sofort den Wirt dieses gottverlassenen Lokals. Der etwas dickliche, für Wirte schickt sich ein gewisser Bauchansatz, mürrisch blickende Mann bewegt sich auf den neuen Gast langsam zu, also wolle er das Unwillkommensein körperlich manifestieren. „Sie habe ich hier noch nie gesehen. Neu in der Gegend?“, brummt der Wirt mit östlichem Akzent.
Der Gast grinst leicht, seine Züge haben etwas katzen- oder besser schlangenhaftes. „Nicht ganz, ich war bereits einmal hier, doch das ist lange her.“
Der Wirt runzelt die Stirn bei dieser Bemerkung, der Neuling scheint nicht älter als dreißig zu sein. Eine ungewöhnliche Klientel für seine Bar, angespannt stützt er sich auf der Tresenkante vor dem Zapfhahn auf. „Was darf es denn sein?“, fragt er schließlich, neues Geld ist kein schlechtes Geld.
„Zum Einstieg einen Whiskey.“, lautet die schlichte Antwort des Sonderlings.
Der Wirt nickt, reibt sich seine Hände an der Schürze ab, die seinen Bauch wohl etwas kaschieren soll und fischt ein Glas aus schaumigem Spülwasser. Er lässt dabei den Fremden nicht aus den Augen, dieser blickt sich interessiert in der Bar um. „Ist leider kein Platz mehr frei, ziemlicher Betrieb heute.“, sagt der Wirt, als er das Glas hinstellt.
Der Gast grinst abermals. „Mir ist jede Gesellschaft recht. Mein Name ist Eril Zuf, aber nennen sie mich einfach Eril. Ihre Bar ist ein sehr interessanter Ort.“, fängt er ein Gespräch an.
Der Wirt seufzt. Er kennt solche Typen zu genüge, sie kommen her, saufen sich die Hucke voll und spucken ihm ihre Probleme ins Gesicht. Als Barkeeper hört er natürlich brav zu, serviert Drink für Drink und begleitet die Gestalten wieder hinaus, sobald sie vollgetankt sind, ihre Lebensgeschichte sofort wieder vergessend. Obwohl es lukrativ ist, zehrt dieses Prozedere sehr an den Nerven des nun doch schon Siebenundfünfzigjährigen. Wie gerne hätte er jemanden, dem er sein Herz ausschütten könne, denn seine Probleme waren größer als die meisten seiner Kunden.
Verblüfft stellt der Wirt fest, dass sein neuer Kunde während dieser trübseligen Gedanken geschwiegen hat, ihn mit einem unaufdringlichen Lächeln anstarrend und doch scheinbar lauernd, fordernd. Der Dicke räuspert sich verlegen.
„Nun hätte ich gerne einen Swimming Pool, haben sie derart?“, sagt Eril mit einer sanften, aber doch festen Stimme.
Verwirrt starrt der Wirt das kleine leere Glas an. Er kann sich nicht erinnern, ihn trinken gesehen zu haben. „Natürlich.“, murmelt er und macht sich benommen ans Mixen.
Eril trommelt leise mit dem Finger auf dem Tresen herum, völlig ohne Ungeduld, allein der Beschäftigung willen, während er sich abermals in der Bar umsieht. Er betrachtet die vollen Tische, die einzelnen Leute, die daran sitzen, ihre Getränke, ihre Gesichter, ihre Gestik. „Ist diese Bar immer so voll?“, wirft er schließlich in den Raum, ohne sich direkt an den Wirt zu wenden.
Irritiert antwortet dieser, während er einen Shaker in der Luft herumwirbelt: „Nun, ich kann nicht klagen. Heute sind natürlich besonders viele Gäste hier, aber eigentlich ist es jeden Abend mehr oder weniger so.“
Eril nickt im Gedanken versunken und nimmt seinen Cocktail entgegen. „Wissen sie, was diese Menschen hier wollen?“, fragt er.
Der Wirt runzelt die Stirn. „Nun, sie suchen Gesellschaft, wollen ihrem Alltag entflüchten und einfach die freie Zeit genießen.“
Eril grinst und blickt nun seinem Gegenüber das erste Mal direkt in die Augen. Ein kalter Schauer läuft diesem über den Rücken, als er Erils fast schon rote Iris anschaut, ja beinahe darin zu versinken droht, so intensiv und ungewöhnlich ist diese Farbe. Schweißperlen laufen dem alten Mann über sein etwas aufgequollenes Gesicht. Eril grinst. Sein Gesicht hat markante Züge und doch ist es erstaunlich gutaussehend, seine ganze Gestalt hat eine etwas erhabene Präsenz, nicht überheblich, doch seiner Klasse bewusst.
„So kann man dies sehen, gewiss.“, sagt er lauernd, „Meine Überzeugung ist allerdings, dass alle Menschen in diesem Raum nur aus einem Grund hier sind.“
Die theatralische Pause erzielt seine gewünschte Wirkung und nagt an der Geduld des Wirtes. „Sie warten auf den Sonnenaufgang. Sie mögen oberflächliche Gründe vorschieben, ihr Laden ist wirklich sehr nett, doch im Grunde warten sie nur auf den nächsten Morgen, damit der nächste Tag in ihren elenden Leben weiter gehen kann.“
Dem Wirt wird diese Unterhaltung immer unangenehmer. Er räuspert sich abermals. Heilfroh erblickt er einen anderen Gast auf seinen Tresen zuwanken. Hastig bewegt er sich auf ihn zu, wirft Eril vorher noch eine entschuldigende Geste entgegen und nimmt die Bestellung auf. Er zapft zwei Biere, reicht sie dem Betrunkenen und ist wieder mit dem seltsamen Fremdling alleine. Das Glas ist wieder leer und so stapft der Wirt mürrisch zu Eril hinüber.
„Was können sie mir denn heute empfehlen?“, sagt dieser beinahe beiläufig.
Der Wirt stutz die Augenbrauen, räumt das leere Glas ab und blickt seinen Spirituosenschrank entlang. Er muss etwas finden, was ihm diesen Kerl vom Leib hält. „Ich mache einen guten Zombie.“, antwortet er schließlich etwas ratlos.
Eril faltet die Hände ineinander und lächelt. „Dann bringen sie mir einen Zombie.“
Mit einem flauen Gefühl im Magen mixt der Barkeeper, etwas mehr Alkohol als sonst hinzufügend. Eril betrachtet dieses Schauspiel, seine Augen lassen das Glas nicht aus dem Blick. Eine halbe Zitrone ziert den fertigen Drink. Erwartungsvoll blickt der Wirt seinen Gast an, doch dieser macht immer noch keine Anstalten zu trinken.
Stattdessen fängt er wieder an zu reden: „Sie scheinen ihr Handwerk wirklich zu verstehen. Dieser Zombie ist ziemlich stark nicht? Nicht das es mir etwas ausmachen würde, doch ich frage mich, welche Klientel sie stets bedienen müssen und ob sie ihre Bedürfnisse in eine bestimmte Richtung lenken. Sie sind doch hier der Herr im Hause.“, ein breites Grinsen flieht über seine Züge, theatralisch breitet er die Arme aus, „Sie müssen ein glücklicher Mensch sein, so viele fremde Gesichter zu erblicken, jedes einzelne eine andere Geschichte erzählend. Denken sie, sie können ihr Leid wenigstens etwas lindern?“
Der Wirt starrt aus leeren Augen in Erils erwartungsvolles Gesicht. Das Mondgesicht strahlt Verwirrung aus, die Gedanken zeichnen sich dort wie Krater ab. „Nun...“, versucht er zu beginnen, „Ich biete hier nur eine Dienstleistung an, keiner wird hier gezwungen zu Trinken. Wer zu viel hat, dem serviere ich nichts mehr. Natürlich versuchen die meisten hier dem Alltag zu entfliehen und darin sehe ich nichts schlechtes.“ Er ist stolz auf seine Antwort, er meint dies stelle den hungrigen Fremden endlich zufrieden.
Eril spielt scheinbar gelangweilt mit dem Strohhalm in seinem Glas und fixiert immer noch den ratlosen Wirt.
„Eine pauschale Antwort, sehr geschickt. Ihnen kann ich wohl keine konkreten Aussagen entlocken, oder? Sie sind hier natürlich auch nicht in einem Verhör, deshalb brauchen sie sich nicht zu rechtfertigen. Und doch frage ich sie diese Dinge, weil ich ihnen helfen möchte.“, fügt er grinsend hinzu.
Unwillkürlich weicht der Wirt einen Schritt zurück und stößt beinahe an sein Spirituosenregal. Ihm schnürt sich die Kehle zusammen, er scheint schwer Luft zu bekommen.
Und abermals ergreift der Fremde das Wort: „Denn ist nicht das Gesicht seines Gegenübers der beste Spiegel?“
Die Worte hallen durch den Kopf des Wirtes, unwirklich, verzerrt, wiederholend. Er fasst sich an die Brust, Schmerz fährt durch sein altes Herz, etwas drückt schwer auf seinem Brustkorb. Dieser Mann ist des Teufels, denkt er sich. Panisch blickt er sich in seiner Bar um. Und wie durch Vorhersehung entdeckt er einen leeren Tisch.
Er räuspert sich, versucht den Klos aus seinem Hals zu vertreiben und sagt mit kaum verständlicher Stimme: „Mein Herr, dort drüben ist ein Tisch frei geworden. So sehr ich ihre Gesellschaft auch genieße, bin ich mir sicher, dass sie doch etwas Komfort genießen wollen.“ Eril folgt dem Blick des Wirtes. Tatsächlich steht dort ein kleiner, gemütlicher Tisch mit zwei Stühlen inmitten des Chaos. „Vielen Dank, dann werde ich mich dort hinüber begeben. Es war mir eine Freunde, dieses Gespräch zu führen.“, sagt er mit einem Grinsen an den Wirt gerichtet. Er greift in seine Jackentasche, zieht einen fünfzig Euro Schein heraus und legt ihn auf den Tresen.
„Den Rest dürfen sie behalten.“, sagt er mit einer Spur Arroganz. Der seltsame Fremde nimmt seinen Hut und begibt sich an den Tisch. Beinahe erschrocken stellt der Wirt fest, dass das Glas wieder wie von Geisterhand geleert wurde.

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