Donnerstag, 21. Januar 2010

Innerer Monolog mit der Pfeife, in der er seine Seele rauchte (elmo)

Eine Kurzgeschichte über Reflexion, Ruhe und Freiheit:


Langsam und bedächtig hob der alte Mann das rostige Feuerzeug an die Pfeife. Seine Hand hatte die ganze Zeit schrecklich gezittert, schon die ganzen letzten Jahre hatte sie ihre alte Ruhe verloren. Damals musste er dann deswegen auch sein Handwerk aufgeben. Sein Lebenswerk war zu diesem Zeitpunkt vollendet. Es sprach für sich selbst. Die Hand hatte erst wieder zu ihrer Ruhe zurückgefunden, als er in seine Tasche gegriffen hatte. Die Hand, die einst so filigrane Arbeiten erledigen konnte und ebenso fein geformt war, wie die Kunststücke die sie vollbrachte, war nun verkümmmert. Die gekreuzten Narben auf jedem Handrücken zeugten von dem verzweifelten Versuch, die alte Sicherheit wieder künstlich zurückzubringen. Der Unterschied seiner Hände von einst und jetzt war zu stark gewesen für ihn, es hatte ihn innerlich zerfressen und ihm den Lebenswillen geraubt. Es waren doch die Uhren gewesen, die mit ihrem Ticken seine eigene innere Lebensuhr immer weitergetrieben hatten. Das Bauen und Reparieren war sein Lebensinhalt und nun war es ihm verwehrt auch seine eigene innere Uhr wieder richtig zum Laufen zu bringen. Doch als er den Tabak der Schachtel aus seiner Manteltasche entnahm war alles vergessen. Die Hand - ruhiger als das Meer je sein könnte, als ob der Wind, der alles in Bewegung setzt, noch nicht geboren wäre. Ganz langsam und dennoch sicher,  jeder Muskel kannte seinen angestammten Platz und wusste was er zu tun hatte. In runden, gleichmäßigen Bewegungen füllten die Hände den Topf der Pfeife. Die Sorgfalt und das außerordentliche Geschick hierbei wäre nicht nur einem Pfeifenraucher selbst aufgefallen, alles war perfekt; sogar die Verarbeitung der Pfeife. Das kostbarste was er neben seinen Händen je besessen hatte, das Geschenk. Ein Geschenk gegeben aus Liebe und voll von Vertrauen. Nicht in seine Arbeit, sondern in ihn selbst. Das erste Mal, dass jemand über seine Perfektion hinweggesehen hatte. Das einzige Mal, dass man in ihm einen lebenden Menschen mit Wünschen und Gefühlen und nicht einen Meister seines Gebiets gesehen hatte. Dieses eine Mal hatte auch dazu geführt, dass er sich einmal geöffnet hatte. Der kluge, wohlerzogenen Mann war über seine Arbeit hinweg getreten und hatte sich selbst gezeigt. Nicht wie sonst unter den Lupenbrillen versteckt hinter der kleinen Tischlampe, die ihm sein längst übertroffener Meister zum Abschied geschenkt hatte. Er hatte sich für sie geöffnet und nun war sie weg. Nach all den Jahren, in denen er sie in sein Herz geschlossen hatte, war sie einfach von ihm gegangen. Ohne ein Wort. Ohne einen letzten Kuss. Ohne eine letzte ihrer sanften Berührungen, die ihn all sein Leid vergessen ließen. Nie wieder würde sie, die trotzdem bei ihm geblieben war, ihn wieder in die Wirklichkeit zurückziehen. Niemand würde ihn je wieder die Tasse an seinen vertrockneten Mund setzten. Niemand würde ihm Geschichten erzählen. Niemand würde ihn begrüßen. Niemand würde ihn vermissen, wenn er einmal nicht mehr wäre. Niemand würde je wieder an seiner Schulter um ihn weinen, obwohl er noch gar nicht weg war. Niemand würde seinen alte Uhr im Herzen wieder aufziehen. Seine Seelen-Uhrmacherin war tot. Er war alleine.
Zurück auf der Straße strich der gebrochene Mann noch einmal über die wunderschöne Pfeife. In dieser grauen Umgebung war sie wahrlich der einzige Lichtblick, sie strahlte die Zufriedenheit und die Ruhe vergangener Zeiten aus. Während der raue Wind an seinem Mantel und an seinen Haaren zog und riss, schien die Pfeife vollkommen unbeeindruckt von der Umgebung zu sein. Den grau-schwarzen Pflastersteinen, über die das Laub in wildem Tanz davon flog, die unregelmäßig den Boden bedeckten bis hin zu den ehemalig weißen Wänden der Häuser, die sich scheinbar fensterlos unbarmherzig in die Höhe erstreckten und die Gasse zu einem wie mit Pech geschwärzten Kessel werden ließen. Die Pflastersteine, die sein Sichtfeld einrahmten, in dessen Mitte sich nur die Pfeife befand, die ihn gefangen hielt. Er drehte das Mundstück an seine alten rauen Lippen und zog daran. Alte Nikotinreste lösten sich und verbreiteten sich von seiner Mundhöhle aus bis in die tiefsten Ecken seiner Lunge. Alte Nikotinreste riefen alte Erinnerungen wach, die er schwer herunterschluckte. Die Hälfte dieser Erinnerungen blieb in seinem Hals stecken und ließen ihn unter Hustenkrämpfen zusammenbrechen. Taumelnd, wie das Laub, stolperte er auf die Wand zu um sich an ihr zu stützen. Mit dem Rücken an sie gelehnt richtete er den Blick wieder auf die Pfeife. Der Ursprung, die Ursache und das Symbol seines zerflossenen Glücks. Er suchte das alte Feuerzeug seines Vaters und fand es in der rechten Hosentasche. Noch in der Tasche schloss er die Hand ganz fest um den Lichtbringer. Sein Feuerzeug, das ihn nie im Stich gelassen hatte.
Langsam und bedächtig hob der alte Mann das rostige Feuerzeug an die Pfeife. Das Feuer zersprengte die vorherrschende Dunkelheit direkt vor seinen traurigen Augen. Die Augen, die vor lauter Leid, die schönen Dinge im Leben nun gänzlich vergessen hatten. Die orange-rote Flamme sprang tanzend auf den Tabak über und lies ihn tief rot aufleuchten. Er tat wieder einen Zug und diesmal strömte frischer Rauch in seine Lungen und füllte sie aus. Er hielt kurz die Luft an und dann, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, lies er sie langsam wieder aus dem Mundwinkel entweichen. Diese Prozedur wiederholte er mehrfach und mit jedem Zug wurde die Welt weniger wichtig. Die Erinnerungen flossen aus ihm heraus. Mit jedem Zug wurde sein Leid gelindert. Mit jedem Zug wurde seine Seele leichter. Bis plötzlich eine Faust sein Herz schmerzhaft packte und noch in seinem Körper zerdrückte. Seine Herzensuhr war zerschmettert und es gab niemand, der sie wieder reparieren konnte. Langsam sank er zu Boden, den Rücken an der Wand. Keine Schmerzen, keine Gedanken, keine Erinnerungen.
Jeder stirbt für sich alleine.
Niemand begleitet einen.
Letztlich frei von allem.
Auch von Gedanken.
Und Erinnerungen.
Und von Sorgen.
Ganz einsam.
Und doch:
Ganz frei.
Alleine.
Frei.

27.2.2008
Download der ganzen Geschichte von gloria-defectus.de

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