Von vor ein paar Nächten, aus der Winterprosa-Reihe, die Nummer IV. Sozusagen nächtlicher Gedankenfluss.
Auch Tote frieren
Du gehst durch die Kälte und spürst nichts außer dem Brennen. Dein Gesicht brennt und du merkst, wie sich deine Augen immer weiter in ihre Höhlen zurückziehen, weil sie Angst haben, dass Tränen an ihrem weichen weißen Fleisch festfrieren und sie beschädigen. Aber das ist in Ordnung so, du siehst sowieso kaum etwas, vor fünf Minuten hast du versucht in deine Hände zu pusten, die du dabei wie einen Schneepflug vor deinem Gesicht aufgespannt hattest, deine Brille ist beschlagen und jetzt noch nicht frei. Du vermutest, dass die warme Feuchtigkeit deiner nicht CO2-neutralen Ausatemluft an deinen Glasscheiben festgefroren ist. Zeitlos stapfst du stumpfsinnig und halbblind vor dich durch die anbrechende Nacht. Die Straßen sind leer und es ist halb 12. Bald haben wieder neue Menschen Geburtstag. Kinder in Indien hungern, aber frieren nicht. Du frierst. Sehr. Morgen hat auch jemand anderes Geburtstag, jemand dem du glaubst. Er hat aufgehört zu trainieren, baut ab und wird alt, aber nicht weich. Er braucht das vielleicht einfach nicht mehr. Er sagte, er habe das schlagende Herz einer Schlange gegessen und man habe ihm Potenz versprochen, einer suizidalen Schlange, fast so als ob sie ohne Kampfgeist schlapp nur noch durch das Joy Division-Tattoo von den anderen gefangenen, sich windenden Kreaturen unterscheidet. Das war gut. Aber jetzt ist noch kalt, arschkalt. Es brennt im Gesicht und beginnt an den Oberschenkeln zu beißen. Taube Haut. Nadelspitzen stumpf und spitz treffen sich aus verschiedenen Richtungen direkt in deinen Hautschichten, reizen deine Nervenendigungen auf Äußerste. Wieder in deinen Gedanken Kinder in Indien, die nicht frieren und doch einfach Ratten essen können. Man wirft sie einfach kurz ins Feuer und, wenn das Fell verkohlt ist, fischt man sie raus, knabbert an ihren Beinen und verspeist ihren Schwanz. Nach einer weiteren Runde Feuer kann man ihre Leber verzehren. Obwohl Ratten ja eigentlich nichts dafür können. Nicht einmal stärksten Halluzinationen ausgesetzt, die wellenartig kamen und wackelnde Wände pulsieren lassen konnten, auf dass du dich mächtig fühltest, konnten Ratten richtig Bridge spielen, egal wie sehr sie sich angestrengt haben, und ihre Hände, egal wie geschickt im planlosen Umgang mit den Karten, können einfach keine Whisky-Gläser stemmen.
Du siehst wieder. Du stehst vor deiner Haustür. Der
Schlüssel dreht sich im Schloss. Du betrittst das Haus und das Licht geht an.
Hemingway kannte keine Bewegungsmelder, aber sicher kannte er Kälte. Kälte so
unbarmherzig, dass dein Körper desertiert. Müde siehst du auf die Treppen vor
dir und blickst von dort auf deine Hand. Schwer zitternd hat sie im Dunkeln das
Schlüsselloch gefunden und jetzt im Licht, aber noch in der Kälte, siehst du blau-lila
marmorierte Finger, die allem Leben entsagt zu haben scheinen. Sie schauen aus
den abgeschnittenen Handschuhen heraus, die du trägst, weil du mit ihnen noch
Seiten umblättern könntest, und, die selbst frisch erworben nicht schön gewesen
sind. Neben dem Schlüssel hast du einen Zettel mit Notizen aus deiner
Hosentasche gezogen ohne es zu merken, du spürst ihn nicht. Du bewältigst die
rutschigen, nassen Treppenstufen mühevoll und auf dem Abtreter versuchst du all
den Schneematsch zu hinterlassen, der dir das Profil aufgefüllt und verhüllt hat. In der Wohnung musst du das
Licht noch selbst anmachen und nachdem der Schalter klickt, siehst du graue
Wände in graudreckigen Teppich übergehen. Aber es ist wenigstens physikalisch
messbare Wärme anwesend. Du ziehst die Jacke aus, die Schuhe. Als du den Schal
abstreifst, reißt er an deiner Oberlippe, wo er mir ihr und Barthaaren und dem
Schleim, der aus deiner hyperperfundierten Nasenschleimhaut quillt, in dem
verzweifelten Versuch deine Einatemluft zu wärmen, festgefroren ist. Dann
dieser Geruch, bekannt und doch nicht leicht einzuordnen, auf jeden Fall falsch
an diesem Ort und vor allem zu dieser Zeit. Dann wird dir klar, dass es
eingefrorene Überbleibsel sind, Relikten aus einer endenden Eiszeit nicht
unähnlich, die dein limbisches System einfach falsch verknüpft bei der
Wiedererweckung, aus den tiefen deines geistigen Kosmos hervorgebärt und sie
kraftvoll und jung in deine Gehirnwindungen bohren. Deine kristalline
Verwirrung begründet sich also im kreischenden und doch orchestralen Crescendo,
das die immer weiter erwachenden Geruchsnerven in deinem Kopf erschaffen, und
das doch kein Ziel und keinen Zweck hat. Jäh wird dir das alles mitten im
Gesicht zerschlagen, als du das Bad betrittst und Essiggeruch dich auf den
Boden der gedankenfreien Realität zurückholt. Wo vorher noch ein Phönix
mystisch um deine Nasenscheidewand herum in deine Gehirnwindungen hinauf
auferstanden ist, stürzt du nun - Ikarus
gleich - in das kalte harte Leben zurück, vor dem dich dein Geist vielleicht
einfach nur schützen wollte. Du stehst in Dreck. Genauer gesagt in
widerwärtigen Ablagerungen deines Lebens, die du nicht zu beseitigen im Stande
bist. Staub und vereinzelt Haare kleben in einem ehemals weißen Waschbecken,
dessen Abfluss gelbliche Ränder aufweist, mit denen du lieber nichts zu tun
haben willst. Diese Einstellung wird sich nicht ändern und trotzdem hängt dein
Gesicht direkt darüber und blickt herab, weil du Angst davor hast, was dir ein
Blick in den mit Wasserspritzern verunreinigte Spiegel zeigen könnte. Wie tot
würde dich der Blick zurück anstarren? Rechts neben dem Wasserhahn siehst du
das Wasserglas, welches du vor ein paar Tagen vier Finger breit mit Essigessenz
gefüllt hast um darin den verkalkten Perlator zu reinigen. Ein müder Versuch endlich Ordnung
zu schaffen, Raum zum wirklich Leben neu wiederzubeschaffen. Jetzt sind nur
noch zwei Finger der stark riechenden Flüssigkeit im Glas, das nicht so
aussieht, als ob man jemals wieder daraus trinken möchte. Eine Ecke des Metallrings
schaut bereits über den Essigspiegel. Der Rest der Essenz liegt schwer in der
Luft, verhindert allen anderen Geruch, ernüchtert und desillusioniert dich. Du
legst deine Brille zusammengeklappt in den Dreck, in dem du auch Barthaare
siehst. Kraftlos drückst du mit der einen Hand auf den Seifenspender und
genauso kraftlos tropft geldblich weiße Flüssigseife cremig in deine andere
Hand, halb geronnenem Eiter nicht unähnlich. Du zerreibst den Stoff mit
unterschiedlichen Konsistenzen zwischen deinen Endgliedern der ersten drei
Finger. Es sind getrocknete Teile dabei, die von der Öffnung des Spenders
mitheruntergekommen sind, und denkst an Wundschorf. Das Wasser schießt in
unkontrolliertem Strom über deine Hände, ist erst kalt, dann viel zu warm und
schließlich fast angenehm. Du befindest deine Hände für sauber genug. Du legst
die Handkanten aneinander und formst ein Trog-artiges Auffangbecken, in welches
dein Gesicht mehr schlecht, als recht passt. Bevor du dein Gesicht in das darin
gefangene Wasser stürzt, siehst du, dass das Wasser voller schwimmender
Partikel ist, und fast wie Milch aussieht, dann begräbst du doch dein Gesicht
darin und gaukelst dir selbst wieder vor zu leben. Du reibst es richtig tief in
alle deine Poren und füllst damit die Löcher in dir.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen