Donnerstag, 16. Februar 2012

Auch Tote frieren (Winterprosa Teil IV) - (elmo)

Von vor ein paar Nächten, aus der Winterprosa-Reihe, die Nummer IV. Sozusagen nächtlicher Gedankenfluss.

Auch Tote frieren


Du gehst durch die Kälte und spürst nichts außer dem Brennen. Dein Gesicht brennt und du merkst, wie sich deine Augen immer weiter in ihre Höhlen zurückziehen, weil sie Angst haben, dass Tränen an ihrem weichen weißen Fleisch festfrieren und sie beschädigen. Aber das ist in Ordnung so, du siehst sowieso kaum etwas, vor fünf Minuten hast du versucht in deine Hände zu pusten, die du dabei wie einen Schneepflug vor deinem Gesicht aufgespannt hattest, deine Brille ist beschlagen und jetzt noch nicht frei. Du vermutest, dass die warme Feuchtigkeit deiner nicht CO2-neutralen Ausatemluft an deinen Glasscheiben festgefroren ist. Zeitlos stapfst du stumpfsinnig und halbblind vor dich durch die anbrechende Nacht. Die Straßen sind leer und es ist halb 12. Bald haben wieder neue Menschen Geburtstag. Kinder in Indien hungern, aber frieren nicht. Du frierst. Sehr. Morgen hat auch jemand anderes Geburtstag, jemand dem du glaubst. Er hat aufgehört zu trainieren, baut ab und wird alt, aber nicht weich. Er braucht das vielleicht einfach nicht mehr. Er sagte, er habe das schlagende Herz einer Schlange gegessen und man habe ihm Potenz versprochen, einer suizidalen Schlange, fast so als ob sie ohne Kampfgeist schlapp nur noch durch das Joy Division-Tattoo von den anderen gefangenen, sich windenden Kreaturen unterscheidet. Das war gut. Aber jetzt ist noch kalt, arschkalt. Es brennt im Gesicht und beginnt an den Oberschenkeln zu beißen. Taube Haut. Nadelspitzen stumpf und spitz treffen sich aus verschiedenen Richtungen direkt in deinen Hautschichten, reizen deine Nervenendigungen auf Äußerste. Wieder in deinen Gedanken Kinder in Indien, die nicht frieren und doch einfach Ratten essen können. Man wirft sie einfach kurz ins Feuer und, wenn das Fell verkohlt ist, fischt man sie raus, knabbert an ihren Beinen und verspeist ihren Schwanz. Nach einer weiteren Runde Feuer kann man ihre Leber verzehren. Obwohl Ratten ja eigentlich nichts dafür können. Nicht einmal stärksten Halluzinationen ausgesetzt, die wellenartig kamen und wackelnde Wände pulsieren lassen konnten, auf dass du dich mächtig fühltest, konnten Ratten richtig Bridge spielen, egal wie sehr sie sich angestrengt haben, und ihre Hände, egal wie geschickt im planlosen Umgang mit den Karten, können einfach keine Whisky-Gläser stemmen.
Du siehst wieder. Du stehst vor deiner Haustür. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Du betrittst das Haus und das Licht geht an. Hemingway kannte keine Bewegungsmelder, aber sicher kannte er Kälte. Kälte so unbarmherzig, dass dein Körper desertiert. Müde siehst du auf die Treppen vor dir und blickst von dort auf deine Hand. Schwer zitternd hat sie im Dunkeln das Schlüsselloch gefunden und jetzt im Licht, aber noch in der Kälte, siehst du blau-lila marmorierte Finger, die allem Leben entsagt zu haben scheinen. Sie schauen aus den abgeschnittenen Handschuhen heraus, die du trägst, weil du mit ihnen noch Seiten umblättern könntest, und, die selbst frisch erworben nicht schön gewesen sind. Neben dem Schlüssel hast du einen Zettel mit Notizen aus deiner Hosentasche gezogen ohne es zu merken, du spürst ihn nicht. Du bewältigst die rutschigen, nassen Treppenstufen mühevoll und auf dem Abtreter versuchst du all den Schneematsch zu hinterlassen, der dir das Profil aufgefüllt und  verhüllt hat. In der Wohnung musst du das Licht noch selbst anmachen und nachdem der Schalter klickt, siehst du graue Wände in graudreckigen Teppich übergehen. Aber es ist wenigstens physikalisch messbare Wärme anwesend. Du ziehst die Jacke aus, die Schuhe. Als du den Schal abstreifst, reißt er an deiner Oberlippe, wo er mir ihr und Barthaaren und dem Schleim, der aus deiner hyperperfundierten Nasenschleimhaut quillt, in dem verzweifelten Versuch deine Einatemluft zu wärmen, festgefroren ist. Dann dieser Geruch, bekannt und doch nicht leicht einzuordnen, auf jeden Fall falsch an diesem Ort und vor allem zu dieser Zeit. Dann wird dir klar, dass es eingefrorene Überbleibsel sind, Relikten aus einer endenden Eiszeit nicht unähnlich, die dein limbisches System einfach falsch verknüpft bei der Wiedererweckung, aus den tiefen deines geistigen Kosmos hervorgebärt und sie kraftvoll und jung in deine Gehirnwindungen bohren. Deine kristalline Verwirrung begründet sich also im kreischenden und doch orchestralen Crescendo, das die immer weiter erwachenden Geruchsnerven in deinem Kopf erschaffen, und das doch kein Ziel und keinen Zweck hat. Jäh wird dir das alles mitten im Gesicht zerschlagen, als du das Bad betrittst und Essiggeruch dich auf den Boden der gedankenfreien Realität zurückholt. Wo vorher noch ein Phönix mystisch um deine Nasenscheidewand herum in deine Gehirnwindungen hinauf auferstanden ist, stürzt du nun  - Ikarus gleich - in das kalte harte Leben zurück, vor dem dich dein Geist vielleicht einfach nur schützen wollte. Du stehst in Dreck. Genauer gesagt in widerwärtigen Ablagerungen deines Lebens, die du nicht zu beseitigen im Stande bist. Staub und vereinzelt Haare kleben in einem ehemals weißen Waschbecken, dessen Abfluss gelbliche Ränder aufweist, mit denen du lieber nichts zu tun haben willst. Diese Einstellung wird sich nicht ändern und trotzdem hängt dein Gesicht direkt darüber und blickt herab, weil du Angst davor hast, was dir ein Blick in den mit Wasserspritzern verunreinigte Spiegel zeigen könnte. Wie tot würde dich der Blick zurück anstarren? Rechts neben dem Wasserhahn siehst du das Wasserglas, welches du vor ein paar Tagen vier Finger breit mit Essigessenz gefüllt hast um darin den verkalkten Perlator  zu reinigen. Ein müder Versuch endlich Ordnung zu schaffen, Raum zum wirklich Leben neu wiederzubeschaffen. Jetzt sind nur noch zwei Finger der stark riechenden Flüssigkeit im Glas, das nicht so aussieht, als ob man jemals wieder daraus trinken möchte. Eine Ecke des Metallrings schaut bereits über den Essigspiegel. Der Rest der Essenz liegt schwer in der Luft, verhindert allen anderen Geruch, ernüchtert und desillusioniert dich. Du legst deine Brille zusammengeklappt in den Dreck, in dem du auch Barthaare siehst. Kraftlos drückst du mit der einen Hand auf den Seifenspender und genauso kraftlos tropft geldblich weiße Flüssigseife cremig in deine andere Hand, halb geronnenem Eiter nicht unähnlich. Du zerreibst den Stoff mit unterschiedlichen Konsistenzen zwischen deinen Endgliedern der ersten drei Finger. Es sind getrocknete Teile dabei, die von der Öffnung des Spenders mitheruntergekommen sind, und denkst an Wundschorf. Das Wasser schießt in unkontrolliertem Strom über deine Hände, ist erst kalt, dann viel zu warm und schließlich fast angenehm. Du befindest deine Hände für sauber genug. Du legst die Handkanten aneinander und formst ein Trog-artiges Auffangbecken, in welches dein Gesicht mehr schlecht, als recht passt. Bevor du dein Gesicht in das darin gefangene Wasser stürzt, siehst du, dass das Wasser voller schwimmender Partikel ist, und fast wie Milch aussieht, dann begräbst du doch dein Gesicht darin und gaukelst dir selbst wieder vor zu leben. Du reibst es richtig tief in alle deine Poren und füllst damit die Löcher in dir.

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