Staatsexamen, Lernphase. Langsam verliert man sich. Dann
gibt es so Tage, an denen kann man nicht zurückkehren in seinen Trott, den man
so verinnerlicht hat. Die Erkenntnis, dass es heute nichts mehr mit lernen wird,
ist mir auf der Heimfahrt von einem Treffen gekommen. Niemand auf diesem
Treffen konnte mich verstehen, das war mir klar. Ich kenne mich ja selbst kaum
noch. Ich habe also auch überhaupt nicht über mich geredet, zuhören viel schon
schwer genug. In der Trambahn der letzte verzweifelte Versuch nochmal ins
Lehrbuch zu schauen. Keinen Zweck. Ich sitze da und drehe die Musik immer
lauter um die anderen Menschen nicht mehr zu hören. Die strickende Hippie-Tante
neben mir würde ich am liebsten erwürgen, weil ich nichts gegen ihren
Räucherstäbchenduft machen kann. Pack dein scheiß Moos zusammen und geh wo
anders hin. Ich fühle mich bedroht von den anderen Menschen, eine Enge
umklammert mich von hinten. Meine Nieren fühlen sich schwerer an. Ich pack die
Glomerulonephritiden und den Rest in den Rucksack. Das kann doch jetzt nicht
sein. Ein ganzes Studium habe ich ohne so eine verdammte Krankheitsheuchlerei
geschafft. Warum jetzt? Ich steige eine Station früher aus, laufe den Rest. Das
Atmen fällt leichter, die Nieren immer noch nicht.
Zu Hause angekommen gehe ich erst mal aufs Klo. Ich sitze da
und nichts passiert, ich bin total leer. Ich wasche die Hände kochend heiß bis
sie schmerzen. Dann kalt, spüre wie sich die Haut zusammen zieht. Zwei Hände
voll Wasser in mein Gesicht. Tropfend schaue ich in den Spiegel, ganz nah, weil
ich ohne Brille sonst nichts sehe. Ich erkenne mich nicht. Zwischen nassem Bart
und leerem Kopf ist nur fremde Haut. Wer schaut mir da entgegen? Scheiße, das
ist kein gutes Zeichen. Ich ziehe die Kopfhörer aus den Ohren, dem
Electro-Scheiß habe ich eh nicht mehr zugehört. Ich erkenne mich immer noch
nicht wieder. Ich lausche meinem Atem. Aus dem Raum nebenan höre ich leise die
Fritteuse meines Mitbewohners summen. Hass. Ich wäre jetzt gerne alleine auf
der Welt. Ich bin alleine auf der Welt.
Ich würde gerne in den Arm genommen werden. Fuck. Nochmal kaltes Wasser,
nichts ändert sich. Ich checke meinen Puls und finde ihn nicht. Nochmal Wasser.
Mein Gesicht und meine Haare alles nass. Ein Pulsschlag war da irgendwo. Ich
bin mir sicher. Wenn es nur Einbildung war, ist das auch egal. Das muss jetzt
reichen. Die Wände kommen näher. Nein, tun sie nicht. Ich strecke mich um die
Baddimensionen zu testen, das rechte Handgelenk knackst vertraut. Die Wände
sind still, schnell entkommen bevor sich das wieder ändert. Ich brauche wieder
frische Luft.
In Jogginghose stehe ich im Gang und ziehe meine Laufschuhe
an. So am Boden kniend mit dem Gesicht direkt vor der einzigen Pflanze in der
Wohnung fällt mir auf, dass sich niemand um sie kümmert. Verstoßenes Ding
mitten im Gang, Niemandsland. Ich gehe in die Küche, nehme das erstbeste Glas
aus dem Schrank und gebe der Pflanze Wasser. Dann stehe ich da und sehe die
Pflanze an. Sehe an mir hoch. Sehe das Glas an, es ist ein Whiskeyglas. Fuck.
Zurück in die Küche, Wasser ins Glas, großer Schluck. Nichts passiert. Ich
stelle das Glas in mein Zimmer und verlasse die Wohnung. Vor der Tür wärme ich
mich auf. Ein bisschen Stretching. Scheiß Stretching. Fuck you, Körper. Ich
gehe zurück ins Haus und hole einen der Whiskeys aus dem Keller. Zurück im
Zimmer gieße ich mir ein volles Glas ein. Fuck you, Körper, fuck you, Hülle, du
fremde Haut.
Das erste Glas geht schnell. Es brennt in der Kehle. Alles
fühlt sich wund an. Ich schenke mir noch ein Glas ein und schalte den Laptop
an. Klicke planlos umher. Das Internet ist der Feind. Wenn ich Firefox öffne,
öffnet sich die Lernseite mit. Ich schalte das Wifi ganz aus. Ich klicke
planlos umher. Das Glas ist leer, noch ein Glas. Es brennt nicht mehr. Da ist,
was ich gesucht habe. Habe ich gesucht? American Songbook. Zeit. Dafür. Ja. Ich
verliere mich im geistigen Nirgendwo. Apathisch sitze ich da.
Ein lautes Knacken holt mich zurück. Ich schaue an mir
herab. Diesmal nicht mein Handgelenk, sondern der Ellbogen. Arm ausgestreckt, meine
Hand an der Flasche, das leere Glas zwischen meinen Beinen. Ich sitze mit dem
Rücken an der Wand am Boden und schaue auf das Bett. Aus dem entfernten Laptop
kommt immer noch das gute Songbook. Ich blicke an mir herab, das Glas ist
wieder voll. Ich nehme einen Schluck und fasse mit der anderen Hand an den
Kopf. Er fühlt sich fremd an. Die Haare sind wieder trocken. Das Zimmer ist
leer. Vor mir erstrecken sich 24qm, sie scheinen endlos. Das Bett verschwindet
fast hinter der Erdkrümmung. Über dem Bett unzählige Bilder. Eins von meinem
Vater mit androgynen Gestalten die Ikarus-gleich aufsteigen. Daneben der Text:
„Fly, fly, up to the sky“. Ich denke an seinen Zusatz: „High enough to die“. Es
ist da direkt an die Wand genagelt. Daneben ein Print aus Desolation
Jones von Warren Ellis mit dem Text: „You win fights by being more prepared
to permanently fuck up the other guy.“
Ich proste beiden Bildern zu und trinke
das Glas in einem Zug. Jetzt fühle ich mich wirklich alleine. Dazu
trällert aus den Boxen Ac-Cent-Tchu-Ate
the Positive, gesungen von Aretha Franklin. Ich falle zur Seite und rolle
mich wie ein Embryo zusammen. Ich atme Staub ein und huste stark. Ich springe
auf, reiße das Fenster auf und beuge mich hinaus. Kalte Luft friert sich meine
Atemwege entlang. Ich spüre jede letzte Alveole, während meine Oberschenkel an
der voll aufgedrehten Heizung verbrennen. Ich verweile so bis ich beides nicht
mehr aushalte. Selbstkasteiung war noch nie so mein Ding. Ja, da bin ich. Daran
jetzt festhalten.
Billie
Holiday singt How deep is the ocean, und
ja, „How much do I love you?“ Ich liebe mich sehr. Ich setze mich aufs
Fensterbrett und schaue in den Raum. Hinter mir Schnee, vor mir Hitze. Am Boden
sehe ich, dass ich das Glas umgeworfen habe. Jameson auf dem Parkett, aber das
Glas ist ganz. Ich springe vom Fensterbrett auf den Boden. So viel Energie. Ich
hebe das Glas auf, schenke nach und stelle alles auf die Fensterbank. Irgendwo
zwischen all meinem Scheiß finde ich ein bisschen Dope und rolle mir einen
Joint.
Ella Fitzgerlad und Blue Skies. Alles bewegt sich schnell.
Jetzt singt sie mit Louis zusammen Cheek
to cheek. Oh ja, „I’m in heaven“. Nein, irgendwie doch nicht. Soviel ich
auch am Joint zeihe, manche Dinge kann man nicht erzwingen. Ich bin mir nicht
sicher, ob ich mich leicht oder schwer fühle. Beim Ausloten dieser Sache falle
ich rückwärts aus dem Fenster.
Ich falle in unbestimmbarer Geschwindigkeit. Das Rauschen in
den Ohren wird lauter, der Jazz leiser, hört auf. Das Rauschen stoppt auch
abrupt, der untere Rücken schlägt zuerst auf, dann der Kopf. Wie ein
Peitschenschlag in den Schnee. Zum Glück wohne ich im Erdgeschoss. Ich bleibe
erst mal liegen und schaue in den Nachthimmel. Natürlich ohne Sterne, so was
gibt es nicht in der Stadt. Leise höre ich Säuseln aus meinem Zimmer ohne den
Song wirklich zu verstehen. Es ist kalt. Arschkalt. Ich beginne nüchtern zu
werden. Nicht gut. Ich stehe auf und schaue in mein Zimmer, immer noch leer.
Ich greife auf die Fensterbank und trinke einen Schluck aus dem Glas. Den Joint
habe ich verloren. Nach einem gescheiterten Versuch hinein zu klettern gehe ich
um das Haus herum und klingle. Mein Mitbewohner macht genervt auf und fragt
mich, warum ich meinen Schlüssel nicht zum Joggen mitnehme und dass ich meine
Musik ausmachen soll, wenn ich das Haus verlasse. Zum Glück habe ich die
Klamotten noch an.
Zurück in meinem Zimmer höre ich Stardust von Henry Mancini. Ich hasse diesen Song. Ich ändere die
Musik. Hallo, Chet Baker, alter Freund. Hätte ich zwei Tage länger gewartet,
wäre ich genau an deinem ersten Todestag zur Welt gekommen. Speedball, fuck. Ich
trinke das Glas aus und gehe ins Bad um mir ein bisschen Wasser zu gönnen. Mein
Mitbewohner steht auf einmal in der Tür und sagt, ich solle nicht ins Waschbecken
scheißen. Ich verstehe seine Witze nüchtern schon nicht. Dann sagt er, dass wir
beide auch nicht in die Küche kacken sollen. Ich nicke und er sagt, „You don’t
defecate where you eat“. Er erzählt mir irgendwas von der Big Bang Theory und
es scheint wie eine fremde Welt. Zurück im Zimmer gibt es erst mal wieder ein
Glas Whiskey.
Auf dem Boden liegend merke ich wie unsymmetrisch mein
Rücken geworden ist. Ich versuche lange mich irgendwie gerade zu rücken, aber
mein Kopf ist immer falsch. Es ist komplett ruhig, nur mein Atem. Ich setze
mich auf, gehe zum Laptop und starte die Chet Baker-Playlist wieder von vorne.
Planlos wandere ich durchs Zimmer. Ich bleibe vor einem er wenigen freien
Flecken Wand stehen und fühle mich leer. Ich wollte immer so viel machen. Ich
sinke dort zu Boden und bleibe mit der Stirn an der Wand hängen. Ein kurzer
Schmerz, dann wieder nichts. Ich schaue die Wand hoch und sehe eine kleine
Blutspur an der weißen Tapete. Fuck, fuck, fuck.
Auf allen vieren krieche ich
ins Badezimmer, ziehe mich Innen an der Tür hoch und schließe ab. Mit dem
Rücken an die Tür gelehnt schaue ich in das Bad bis mir etwas ins linke Auge
läuft. Ich taumle ans Waschbecken, setzte die Brille ab und wasche mein Gesicht
bis nichts rotes mehr an meinen Händen ist. In den Spiegel schaue ich lieber
nicht. Dann pinkle ich ins Waschbecken, das hat er jetzt davon.
Auf dem Rückweg verirre ich mich und stehe auf einmal in der
überfüllten Rumpelkammer ohne Tür. Das erste, was man sieht, wenn man die
Wohnung betritt. Irgendwie messy. Ich
nehme die braune Rolle Packpapier mit in mein Zimmer. Dort breite ich ein Stück
aus und lege mich drauf, rolle mich ein und versuche so liegen zu bleiben. Das
geht aber irgendwie nicht. Wo kommt all diese Dynamik her? Zu einem Pianosolo
rolle ich mehr Papier auf dem Grund aus, schneide, rolle mehr, schneide
nochmals. Irgendwie schaffe ich es die zwei großen Stücke aneinander zu kleben.
Bei all der Anstrengung muss ich kotzen und schaffe es gerade noch zum Fenster.
Da hänge ich bis die Oberschenkel wieder zu heiß werden. Ich finde das Glas
nicht mehr und trinke direkt aus der Flasche.
Kurzer Blackout. Ganz kurz. Keine Ahnung, wie ich es
geschafft habe, die Papierfläche an der Wand zu befestigen. Ob sie gerade
hängt, keine Ahnung. Was mit mir passiert, keine Ahnung. Ich nehme in jede Hand
einen Kohlestift und zerbreche beide. Mit zwei Resten in der Hand wanke ich auf
die Wand zu und beginne in halbsymmetrischen Bewegungen zu malen. Kreise oder
so ähnlich. Unzählige Male sinke ich an der Wand zu Boden, aber die Stirn
bleibt heil. Die Hände und Unterarme sind schwarz, die Knie auch, den Rest sehe
ich nicht. Ich tanze über die Wand. Alles ist ganz still. Die Musik ist nur
noch in meinem Kopf und Kohlekratzen auf Papier. Mein Herz trommelt, nur nicht
ganz rhythmisch. Ich höre auf zu malen, ich habe gar keine Kohle mehr in den
Händen. Ich stolpere rückwärts um zu sehen, was ich auf das Papier gebracht
habe. Es ist ein riesiges Gesicht, Insekten-artig. Es schaut mich traurig an
und ich schaue leer zurück. Die Energie ist weg und ich sinke am Boden
zusammen. Ich rolle mich auf die andere Seite um den Blicken zu entgehen und
spüre sie doch. Brennen in meinem Rücken. Der Boden bewegt sich und ich rolle
irgendwie weiter. Alles ist schief. Ich versuche mich hinter der Erdkrümmung zu
verstecken, in der letzten Ecke. Ich versuche zwischen Heizung und Wand zu
kriechen, aber ich bin zu groß. Ich ziehe mich an der Heizung hoch und trinke
aus der Whiskeyflasche, die wieder am Fenster steht. Mein Magen brennt. Mit der
Flasche in der Hand robbe ich zum Laptop und drücke wieder auf Play.
Wieder
Chet Baker. Tot. Speedball. Zwei Tage zu früh. Ich knie am Boden, trinke wieder
aus der Flasche und merke, dass sie leer ist. Keine Ahnung, wie lange schon.
Ich sehe auf den Boden, überall schwarze Kohlestreifen. Vor meinen Knien liegen
die zwei Bruchstücke von zuvor. Ich stecke sie in die Flasche und beginne sie
langsam zu schütteln, dann schneller. Immer wilder tanze ich mit meiner Rassel
durch das Zimmer. Die Musik scheint funky. Wie ein Derwisch drehe und drehe ich
mich. Auf einmal wieder Stille. Mit klopfendem Herz bleibe ich irgendwie vor
dem Gesicht stehen. Ich drehe die Flasche in meine Hand und empfange ein Stück
Kohle. Brüchig und weich. Vorsichtig nehme ich es und schreibe senkrecht in die
Mitte des Gesichts: „I am the Queen of honey and you are my slave“. Dann geben
die Knie nach. Ich sinke vor der Wand zu Boden. So nah, dass mich das Gesicht einfach
nicht sehen kann. Krümme mich zu einem Embryo und jetzt Stille. Ich höre mein
Herz nicht mehr und schlafe diesmal wirklich ein.
Nach ein paar Stunden Koma und Herzstillstand wache ich
wieder auf, dusche mich und lerne weiter.
27.1.14